Fallbeispiele

Starke Worte

Sabine Murner* ist eine erfolgreiche und zugleich sehr attraktive Mittdreißigerin. Sie hat einen steilen Karriereweg hinter sich. Nach einem exzellenten Abitur schloss sie ihr Betriebswirtschaftsstudium an einer Schweizer Eliteuniversität mit einem Einser-Master ab. Danach begann sie in einem internationalen Pharmakonzern in der Marketingabteilung und avancierte schnell zur Bereichsleiterin „Marketing weltweit“. Sie zeichnet Verantwortung für einen Etat von 5 Millionen US-Dollar jährlich, insgesamt sind ihr 350 Mitarbeitende an den internationalen Standorten unterstellt. „Mein Job ist meine Leidenschaft“, beantwortet sie mir meine Frage nach ihrer Zufriedenheit im Beruf.

Der Auftrag an den Coach

„Offensichtlich läuft bei Ihnen ja alles bestens“, eröffne ich unser erstes Coaching, zu dem – so hatte sie es mir bereits beim telefonischen Vorgespräch vorgetragen – ihr Chef sie geschickt hatte. Was genau ist ihr Coaching-Anliegen? Laut einer Mitarbeiterzufriedenheitsumfrage genießt Frau Murner bei ihren Kollegen und Kolleginnen in den jeweiligen internationalen Standorten keine große Beliebtheit. Man wirft ihr Ungeduld und Gefühlskälte vor und kritisiert, dass sie zu wenig Wertschätzung und Wohlwollen zum Ausdruck bringe. Daher lautet ihr Coaching-Auftrag: Wie gelingt mir ein besserer Führungsstil?

Die Neuformulierung des Coaching-Anliegens

Nach einigen Rückfragen wird mir klar: Das von Ihr vorgetragene Anliegen wurde von ihrem Chef so formuliert. Frau Murner will sich zwar um einen besseren Führungsstil bemühen, weiß aber selber nicht so genau, was sie falsch macht. Wir sprechen über Führungsgrundsätze und Beispiele aus ihrem Alltag. So beschreibt sie mir eine Situation, die sie mit folgendem Satz abschließt: “Wie soll ich denn jemanden, der sich so doof anstellt wie Herr Hauser, anders führen?“ „Das sind starke Worte,“ denke ich und entschließe mich, im Verlauf unseres Coachings den Grund ihres Verhaltens genauer zu beleuchten. Zunächst also zurück zu ihrem Coaching-Anliegen.

Wir versuchen an ihrer Definition eines guten Führungsstils zu arbeiten und kommen im Verlauf des Coachings dazu, dass sie stark unter der Ablehnung ihrer Kollegen leidet. Gleichzeitig ahnt sie, dass sie ihren Team-Erfolg so auf Dauer nicht halten kann und gibt ein wenig kleinlaut zu: „Ich glaube, ich muss höflicher mit meinen Leuten umgehen.“ Nach weiteren Rückfragen meinerseits modifizieren wir ihr Coaching-Anliegen so: Wie kann ich meinen Mitarbeitenden mehr Wertschätzung entgegenbringen?

Die Schritte zum Ziel

Frau Murners Chef hat ihr fünf Coachingsitzungen genehmigt und ich bestärke Frau Murner darin, dass ich es für machbar halte, in diesen Sitzungen einen guten Schritt voranzukommen auf dem Weg zu mehr Wertschätzung.

Um mir zunächst noch einen genaueren Eindruck von ihrem Führungsverhalten zu machen, bitte ich Frau Murner, mir eine typische Konfliktsituation mit einem Mitarbeitenden zu beschreiben. Auch hier höre ich wieder heraus, dass sie mit ihren Teammitgliedern in einem sehr harschen Umgangston kommuniziert. Deshalb arbeiten wir zunächst an ihrer Definition von Wertschätzung. An ihren schweren Atemzügen erkenne ich, wieviel Mühe es sie kostet, zahlreiche positive und wertschätzende Verhaltensmaßstäbe zu formulieren. Dabei quält sie sich besonders mit der Vorstellung, Kritik an einem Mitarbeitenden dennoch mit Wohlwollen zu formulieren. „Wie soll das denn gehen? Wenn jemand Mist gebaut hat, muss ich ihn doch zur Belohnung nicht noch in Watte packen, oder?“ Daher gebe ich zu bedenken: „Frau Murner, einen Menschen wertschätzend zu kritisieren, heißt ja nicht, dass sie das, was er gemacht hat, für Qualität halten. Könnte es nicht möglich sein, dass es hierbei vielmehr um Sie, um Ihre Einstellung diesem Menschen und dem Thema `Fehler` gegenüber geht?“ Wir versuchen gemeinsam konstruktive Kritik zu formulieren und im Laufe dieser Coachingsitzung erkennt Frau Murner, wie wichtig Wertschätzung für die Motivation und Leistungsbereitschaft der Mitarbeitenden ist.

Durch verschiedene Methoden wie Rollenspiel und Wahrnehmungsübungen zum eigenen Verhalten erkennt Frau Murner, wie schwer es ihr fällt, Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen.

Hinter ihrer vordergründigen Gefühlskälte verbirgt sich eine durchaus sensible Persönlichkeit, die mit nun deutlich leiserer Stimme vorträgt: „Manchmal finde ich mich genauso grauenvoll wie meinen Vater. Er hat uns früher so gedrillt, war so streng und ehrgeizig mit uns. Fehler wurden nicht toleriert. Wehe wir sahen nicht schnell genug ein, dass wir etwas hätten besser machen können.“ Da lag also eine Ursache für Frau Murners Verhalten. Als ehrgeizige und erfolgreiche Vatertochter hatte sie die Wertemuster unbewusst übernommen.

Im Coaching kommen wir häufig mit unserer Kindheit und Jugend in Kontakt, nichts prägt uns mehr als elterliche Vorbilder. Mehr und mehr sinkt meine Klientin vor mir auf dem Stuhl zusammen. Ihre Stirn legt sich in Falten und auch ihre Haut wird fleckig – eine erschöpfte und verletzte Person.

Als Coach muss ich stets auch die Körpersprache meiner Klienten genau im Blick haben. Sie gibt mir häufig den Schlüssel zu einer tiefer liegenden Ursache. Ich erkläre ihr Antreibermodelle und Lebensbotschaften, die uns unsere Eltern mit auf den Weg geben.

Die fünf Antreiber aus der Transaktionsanalyse nach Taibi Kahler sind:

Jeder von uns trägt mehrere dieser Antreiber in sich, im Falle von Frau Murner treffen wir auf die besonders erschöpfende Kombination von „Sei stark!“ und „Streng Dich an!“. Ich mache sie auf die starke Dynamik dieser Antreiberkombination aufmerksam und bitte sie, für die nächste Sitzung einmal vorzubereiten, auf welchen der Antreiber sie am liebsten verzichten würde.

In unsere nächste Sitzung kommt Frau Murner ein wenig traurig: „Ehrlich gesagt wollte ich mit Ihnen an meinem Führungsstil arbeiten, mich aber nicht in meinen alten Geschichten wiederfinden. Ich will hier doch keine Psychotherapie. Mit meinem Vater habe ich längst abgeschlossen.“ Ich nehme ihr ein wenig die Verzweiflung und versuche, sie darauf aufmerksam zu machen, dass alles gar nicht so furchtbar ist. „Können Sie sich vorstellen, ein wenig Tempo aus Ihrem Leben zu nehmen? Was glauben Sie, würden Ihre Mitarbeitenden davon halten? Und Ihr Chef?“ Mit solchen zirkulären Fragen erreicht ein systemischer Coach eine Öffnung des Klienten. Indem man durch Fragen das ganze System um den Klienten mit einbezieht, weitet man häufig den Blick und löst eine umfassendere Reflektion aus, die nicht mehr so sehr auf ihn selbst fokussiert ist.

Die Erkenntnis

Frau Murner lässt die Idee von weniger Tempo und Ungeduld mit ihren Mitarbeitenden zu. Auch wenn sie sich selbst noch nicht so wirklich damit anfreunden kann, erkennt sie: „Naja, ich glaube, meinen Leuten ginge es zumindest besser damit. Und das ist ja auch nicht unwichtig. Denn ich kann es mir auf keinen Fall erlauben, dass ihnen die Motivation wegbricht.“ In den zwei folgenden Coachingsitzungen arbeiten wir weiter an der Qualität von Geduld und Wertschätzung, an den Vorzügen von Güte und Langsamkeit. Unsere vierte Sitzung verlässt Frau Murner mit dem Vorsatz, besser auf ihre Wertschätzung nicht nur gegenüber ihren Mitarbeitenden, sondern auch gegenüber sich selbst zu achten. Wertschätzung und Wohlwollen sind die zwei Karteikarten, die sie sich als Motto aus unserem Coaching mitnimmt. Sie hat erkannt, dass sie diese Eigenschaften dauerhaft eher zum Erfolg im Umgang mit ihren Mitarbeitenden bringen als Unmut und Ungeduld. Sie wirkt erleichtert und erkennt, dass ihr Perfektionismus gepaart mit ihrem hohen Drang, stets alles zu geben und weder Anstrengung noch Mühe zu scheuen, auf Dauer kein Erfolgsgeheimnis sein kann. Es brennt sie nur mehr und mehr aus.

Wir verabreden, dass Frau Murner ihre Abschlusssitzung nach drei Monaten nehmen wird. In dieser Sitzung werden wir spiegeln, ob und wie sich ihre veränderte Haltung bei ihren Mitarbeitenden ausgewirkt haben. Daran anschließend werden wir entscheiden, ob sie noch weitere Coachings benötigt. Der Stein ist nun in jedem Fall ins Rollen gekommen.

* Name aus Personenschutzgründen geändert.

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