Fallbeispiele

Hoch einfliegen

Als Sabine Hauser* zu mir kommt, erscheint eine ehrgeizige Frau Ende Dreißig. Sie beschreibt mir relativ klar und zügig, dass sie mit 19 Jahren ihren Eltern zuliebe ein Musikstudium aufgenommen habe, aber bereits im Grundstudium merkte, dass dies eine falsche Entscheidung gewesen sei.

Vielmehr wollte sie Psychologie studieren, doch ihre Eltern hielten dies für aussichtslos. Dennoch hatte sie sich ohne Absprache mit ihren Eltern für einen Studienplatz in Psychologie beworben und diesen aufgrund ihres sehr guten Abiturdurchschnitts sofort bekommen.

Gegen den Willen ihrer Eltern brach sie das Musikstudium im vierten Semester ab und nahm das Studium der Psychologie auf, das sie mit großem Interesse verfolgte. Allerdings musste sie einen beachtlichen Teil ihres Studiums selbst finanzieren, weil ihre Eltern nicht einverstanden waren mit ihrer Entscheidung. Dadurch brauchte sie für das Studium wesentlich länger, weil sie nebenbei ständig arbeiten musste. Im Anschluss an den Studienabschluss hatte sie promoviert und eine sehr kostspielige Ausbildung zur Gesprächstherapeutin absolviert.

Bis dahin also ein sehr mutiger und selbstbestimmter Lebensweg einer Frau, die ihren Traum verfolgt hat. Dennoch sitzt diese Frau nun sehr ratlos und völlig verzweifelt vor mir. „Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Nun habe ich jahrelang für meinen Traum gekämpft, einen Berg Schulden für meine Promotion und die Therapieausbildung auf mich genommen, um jetzt festzustellen, dass mich die therapeutische Arbeit überhaupt nicht befriedigt. Vielmehr möchte ich wissenschaftlich oder in einem Unternehmen arbeiten. Aber dafür bin ich ja jetzt schon zu alt. Kein Arbeitgeber nimmt mich mit Ende dreißig.“

Der Auftrag an den Coach

Wie gelingt es mir, trotz meines Alters eine Anstellung in der Wirtschaft oder Wissenschaft mit Weiterentwicklungsmöglichkeiten zu bekommen?

Die Neuformulierung des Coachinganliegens

Tatsächlich hat Frau Hauser schon einige Absagen aufgrund ihres Alters erhalten. Dabei hatte man sie darauf hingewiesen, dass man befürchte, sie sei zu alt für eine Forschungsaufgabe. Sie selbst hat diese Fremdbewertung übernommen und empfindet Scham, schon „so alt“ zu sein und noch immer am Anfang ihrer beruflichen Karriere zu stehen. Deshalb befassen wir uns in unserer ersten Coachingsitzung insbesondere mit dem Thema „Alter“, dessen Nachteilen und Vorzügen und erarbeiten eine verändertes Coaching-Anliegen: Was bietet mein Alter für Vorteile für meinen möglichen zukünftigen Arbeitgeber?

Die Schritte zum Ziel

Am Ende der ersten Coaching-Sitzung schlage ich Frau Hauser zunächst fünf 1,5-stündige Sitzungen vor, die in kurzen Abständen, nämlich wöchentlich, erfolgen sollen, weil Frau Hauser für sich großen Zeitdruck empfindet und schnell mit ihren Bewerbungen voranschreiten möchte.

Nach unserem ersten Treffen bitte ich sie, mir ihre Bewerbungsunterlagen und vor allem eine Aufstellung ihrer Tätigkeiten zukommen zu lassen, die sie während ihres Studiums zum Gelderwerb ausgeführt hatte.

Tatsächlich finden sich viele verwertbare Berufserfahrungen, die sie mit in ihre Bewerbungen einbringen kann. Dazu fällt mir auf, dass sie sehr qualifiziert ist, der einzige Stolperstein ist eben ihr Alter. Allerdings wird mir klar, dass sie mit ihrer schamhaften Haltung gegenüber ihrem Alter niemanden in einem Bewerbungsgespräch für sich gewinnen kann. Also gilt es insbesondere, mit Frau Hauser an ihrer Haltung gegenüber ihrem Alter zu arbeiten.

Deshalb setze ich die Methode des „Reframing“ ein. Ich schlage ihr vor, dass wir reflektieren werden, welche Vorzüge ihr Alter für ihren Job bietet. Dabei erstellen wir eine Liste ihrer Stärken. Hierbei geht es natürlich nicht allein um die Faktensammlung, sondern auch um die Motive, die meine Klientin derzeit hemmen, sich zu verändern. In unseren weiteren Sitzungen erarbeiten wir dann die geeigneten Zielgruppen von Arbeitgebern, die ihr Alter nicht als Hemmnis betrachten, sondern als Erfahrungsschatz.

Und da genau ist meine Klientin Expertin ihres Lebens, sie erkennt, dass sie zuvor viel zu kleine und provinzielle Arbeitgeber angesteuert hat. Vielmehr suchen wir nach Arbeitgebern, die für ihren ungewöhnlichen Lebensweg Anerkennung nicht aber Skepsis empfinden. Daher formulieren wir ein neues Coaching-Anliegen, das sich dem ersten anschließt:

Ein Brainstorming führt uns zu einer Liste mit möglichen Jobchancen:

Gleichzeitig formulieren wir ihre Bewerbungsunterlagen neu, in dem wir ihr Alter nicht verstecken, sondern damit werben: „Meine Leidenschaft ist die Psychologie. Dabei arbeite ich lieber in der Forschung oder für ein Unternehmen als in der Therapie. Ich habe einige Zeit gebraucht, um mir diesen Wunsch zu verwirklichen. Aber nun weiß ich genau, welche Stärken ich auf diesem nicht stromlinienförmigen Lebenslauf entwickelt habe. Ich habe viel investiert in meinen beruflichen Traum. Jetzt möchte ich Ihnen meine gesamte Kompetenz und berufliche Leidenschaft zur Verfügung stellen.“

Zunächst schreckt Frau Hauser vor einem so selbstbewussten Umgang mit ihrem Alter und ihrem Lebenslauf zurück. Deshalb rege ich erneut ihre Gedanken an: „Frau Hauser, Sie haben viel in Ihre Ausbildung investiert. Sie haben außerdem jahrelang Verzicht geleistet für Ihren Traum. Wie könnte derjenige Arbeitgeber aussehen, dem sie Ihre Leistungen und Kompetenzen zuteil werden lassen wollen?“ Sie atmet tief und stimmt zu: „Ja, Sie haben ja recht. Die Zeit für Kompromisse ist vorbei. Ich habe jetzt so lange für mein Ziel gekämpft, nun muss ich auch einen Arbeitgeber finden, der meinen Einsatz schätzt und nicht als Mangel bewertet.“

Wie erreichen wir nun die Wunscharbeitgeber? Frau Hauser entschließt sich, einige wichtige Wissenschafts-Kongresse zu besuchen, an denen sie Vertreter der Top-Hochschulen und Unternehmen treffen kann, die sie besonders interessieren. Sie plant dort persönliche Gespräche mit relevanten Vertretern. Die Strategie, die wir für ihre Gespräche vereinbaren, ist die: Man muss an außergewöhnliche Menschen herantreten. Je weniger geradlinig ihre Lebenswege sind, desto offener sind sie für Frau Hausers Lebensweg. Sie muss also weg von ihrem alten Plan, sich bei kleinen und unbedeutenden Arbeitgebern zu bewerben, sondern bei großen, sehr erfolgreichen und vor allem solchen, die eine offene Kultur für Individualität, Durchhaltevermögen und Ehrgeiz pflegen.

Die Erkenntnis

In unsere sechste und letzte Coaching-Sitzung kommt sie und berichtet mir aufgeregt: „Stellen Sie sich vor, ich habe mich beworben auf eine Anzeige einer Unternehmensberatung, die einen Berater sucht für ein Forschungs- und Wissenschaftsunternehmen. Die Bewerbung habe ich ja noch formulieren können. Doch mich verlässt `mal wieder mein Mut. Soll ich bei denen denn eine Chance haben?“ Ich stelle ihr die Frage, worauf es bei dieser Stelle denn ankomme. Sie entgegnet: „Auf sehr gute Noten, Durchhaltevermögen und eine Promotion.“ Ich erinnere sie an ihre Zeugnisse und sie lächelt. Wir erarbeiten für das Vorstellungsgespräch eine Strategie, wie sie genau ihr Alter, ihre Berufserfahrungen und ihre Beharrlichkeit in ihrem Lebensweg gewinnbringend für ein Beratungsunternehmen einsetzen kann.

Tatsächlich erhält Frau Hauser am Ende genau diesen Job, insbesondere weil man von ihrem Durchhaltewillen und ihrem Biss, mit dem sie ihren Lebensweg beschritten hat, sehr viel erwartet. „Das Alter hat man in diesem Zusammenhang gar nicht thematisiert“, berichtet sie. Vielmehr habe man sie gefragt, ob sie unabhängig und bereit sei, häufiger zu reisen. Dies konnte sie nur bestätigen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich `mal in einer so renommierten Beratungsgesellschaft ankommen könnte. Man hat sich für mich entschieden – und das, obwohl es noch eine Vielzahl jüngerer Bewerber gab.“

* Name aus Personenschutzgründen geändert.

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