Fallbeispiele

Falsche Bescheidenheit

Susanne Kaufmann* ist diplomierte Architektin. Die 41-Jährige fühlt sich in ihrem Beruf nicht genügend wahrgenommen und geschätzt. Sie ist enttäuscht von ihren Kollegen und ihrem Chef, weil sie bei zahlreichen Beförderungen übergangen wurde. Aus ihrer Sicht werden wesentlich weniger kompetente Kollegen besser honoriert. Deshalb fühlt sie sich „in einer Krise“.

Allerdings sieht sie durchaus auch die Vorteile ihrer derzeitigen Anstellung, da sie in diesem Job eine komfortable Teilzeitstelle inne hat, in der sie relativ geregelt von 8 Uhr bis 13 Uhr arbeiten kann, um dann pünktlich nach Hause gehen und sich ihren Kindern widmen zu können. Aufgrund einiger Initiativbewerbungen weiß sie, dass es sehr schwer ist, in ihrem Alter, „und dann noch mit Teilzeitwunsch“ bei einem anderen Arbeitgeber eine Anstellung zu finden. Doch so wie bisher will sie auf keinen Fall weitermachen.

Der Auftrag an den Coach

Frau Kaufmann möchte Klarheit darüber gewinnen, wie sie erstens ihr neues berufliches Ziel formulieren soll und zweitens, wie sie überhaupt eine adäquate neue Anstellung finden kann.

Die Neuformulierung des Coaching-Anliegens

Susanne Kaufmann will – so ist es nach einigen Rückfragen klar – die Quadratur des Kreises. Zum einen ist sie unzufrieden mit ihrem bisher geringen Einflussbereich in ihrer Teilzeitstelle, zum anderen möchte sie keinesfalls später als um 13 Uhr nach Hause gehen. Bei unserer gemeinsamen Auftragsklärung erkennt sie aber, dass sie beide Wünsche nicht verbinden kann; Machtfülle und Teilzeitarbeit in einem Angestelltenverhältnis und dazu in einer männerdominierten Branche lassen sich nicht miteinander vereinbaren. Daher formuliert sie ihr ursprüngliches Coaching-Anliegen neu: Wie kann ich mehr Einfluss in meinem Beruf erwerben und zugleich noch Zeit für meine Kinder haben?

Die Schritte zum Ziel

Frau Kaufmann und ich entscheiden uns zunächst für fünf Coaching-Sitzungen. In den ersten beiden Sitzungen erarbeiten wir gemeinsam die Entscheidung, ob Frau Kaufmann weiterhin im Angestelltenverhältnis bleiben will oder nicht. Anhand eines typischen Coaching-Modells betrachten wir das Spannungsverhältnis zwischen Arbeit und Privatleben und stellen fest, dass eine Position als freie Mitarbeitende oder selbständige Architektin ihr möglicherweise die gewünschte größere Einflussnahme in den beruflichen Prozessen der Architekten ermöglichen kann.

In der folgenden dritten Coaching-Sitzung erstellen wir eine Ist-Analyse ihrer derzeitigen Kompetenz. Außerdem gehen wir der Frage nach, warum sie in ihrem letzten Job gescheitert ist. Ihrer Ansicht nach lag es in erster Linie an einem zu dominanten Chef, der sie nicht wachsen ließ. Mit diesem Thema befassen wir uns genauer und finden dabei mit Hilfe eines biografischen Exkurses in die Kindheit heraus, dass sie von dem Antreiber „Sei gefällig“ und „Mach es allen recht!“ geprägt wird, der ihr als Kind viel Anerkennung und Wohlwollen einbrachte. Doch in der männerdominierten letzten Arbeitsstelle wurde ihr dieser Antreiber zum Verhängnis. Denn Frau Kaufmann neigte dazu, sich gegenüber ihrem Chef stets wie die kleine Susanne aus ihrer Kindheit höflich zurückzuhalten und sich bloß nicht „zu vorlaut zu Wort zu melden“. Dies führte dazu, dass sie in gemeinsamen Meetings nur sehr selten die Gelegenheit wahrnahm, ihre Kompetenz auch selbst zu kommunizieren. Vielmehr überließ sie es den selbstbewussten Kollegen oder aber ihrem Chef. Dabei vermutete sie irrtümlicherweise, sich besonders beliebt zu machen und kooperativ zu zeigen. Leider erlag sie hierbei einem Irrtum, denn ihre Kollegen gewöhnten sich daran, die Ideen von Frau Kaufmann gern als ihre eigenen zu verkaufen, gleichzeitig fühlte sich Frau Kaufmann von allen übergangen, übersehen und nicht genügend wertgeschätzt. Dadurch geriet sie unfreiwillig in die zweite Reihe und wurde deshalb auch von ihrem Chef nicht ausreichend anerkannt.

In der weiteren Coaching-Sitzung erarbeiten bitte wir eine neue Rollendefinition für Frau Kaufmann, die sie von nun an zu einer selbstbewussteren Persönlichkeit machen soll. Außerdem erstellten wir eine To-Do-Liste der erforderlichen Tools, die sie benötigt, um ihre Leistungen als selbständige Architektin nach Tagessätzen einem Architekturbüro anbieten zu können.

In der Schluss-Sitzung legen wir einen Zeitplan fest, in dem Frau Kaufmann die noch zu ergänzenden Fähigkeiten für ihre künftige Selbständigkeit erwerben kann. Hierbei wird besonders deutlich, dass sie sich erstens im Bereich Buchhaltung weiterbilden und zweitens ihr Netzwerk mit anderen Architektinnen erweitern muss.

Die Erkenntnis

Frau Kaufmann hat im Coaching eine wichtige Erkenntnis gewonnen: Die angepasste und schüchterne Zurückhaltung der „kleinen Susanne“ steht ihr in ihrem heutigen Beruf im Wege. Deshalb möchte sie nun für sich eine neue Rollendefinition entwickeln und damit beginnen, die Anforderungen an einen selbstbewussteren Auftritt – vor allem mit Blick auf ihre geplante Selbständigkeit – schrittweise einzuüben. Hierzu zählt vor allem, dass sie ihre Kompetenzen souverän gegenüber ihrem Chef und ihren Kollegen formuliert und bei Präsentationen häufiger die Rolle der Vortragenden übernimmt.

So wird sie versuchen, ihre Kenntnisse gelassen und souverän vorzutragen. Besonders motiviert sie dabei der Gedanke, dass sie in einer Selbstständigkeit diese Fähigkeiten gut eingeübt haben muss. Zum Abschluss vereinbaren wir, uns in einem dreimonatigen Rhythmus zum Coaching zu treffen, weil es ihr „die Sicherheit gibt“, wie Frau Kaufmann vorträgt, auf die neuen Herausforderungen besser vorbereitet zu sein. Außerdem möchte Sie mit mir zukünftig auch das Feedback ihrer Kollegen auf ihr neues, verändertes Verhalten bearbeiten.

* Name aus Personenschutzgründen geändert.

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